75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und 22 Jahre nach der Washingtoner Erklärung (Washington Conference on Holocaust-Era Assets) ist der moralisch-ethischen Selbstverpflichtung nur partiell nachgekommen worden, der Wille vieler Museen zur proaktiven Überprüfung der eigenen Sammlungsbestände auf aus sog. Unrechtskontexten stammendes Kulturgut ist noch immer mangelhaft. Hiervon zeugten zuletzt die statistischen Erhebungen des Instituts für Museumsforschung für das Jahr 2016: von 4.065 befragten Häusern gaben lediglich 10,1 % an, Provenienzforschung durchzuführen, wohingegen 75,5 % dies verneinten. (1) Obwohl diese statistische Erhebung bereits vier Jahre alt ist, hat sich an der Grundhaltung der Museen seither nicht viel geändert. Diese Untersuchung belegt, dass Provenienzforschung an kulturgutbewahrenden Einrichtungen in Deutschland noch lange keine Selbstverständlichkeit ist. Auch im Bulletin des DMB 3/2019 zu „Berufen im Museum“ war sie nicht aufgeführt, obwohl der DMB selbst verdienstvolle Leitfäden zum Thema publizierte. (2) Umso wichtiger, dass die Provenienzforschung in den letzten Leitfaden des DMB „Professionell arbeiten im Museum“ nun endlich Aufnahme gefunden hat.
Aber wie kann es sein, dass sich drei von vier deutschen Museen dem Thema noch immer entziehen? Hat die Provenienzforschung trotz des gesteigerten medialen Interesses ein Wahrnehmungsproblem? Sind tatsächlich erst Skandale wie der „Schwabinger Kunstfund“ oder der Rücktritt von Bénédicte Savoy aus dem Beirat des Humboldt-Forums nötig, um das Bewusstsein in der Politik sowie öffentlichen und privaten Einrichtungen zu schärfen?
Seit 20 Jahren arbeitet der Arbeitskreis Provenienzforschung e.V. ehrenamtlich am Aufbau und der Professionalisierung eines weltweit einzigartigen und unabhängigen Netzwerkes, dem mittlerweile über 345 internationale Forschende angehören. Neben der Kontexterschließung zu Enteignungen, Verlagerungen, Plünderungen und dem Raub von Kunst- und Kulturgütern – deren Ausmaße wir wohl bis heute noch immer nicht annähernd greifen können – gehören auch historische Erwerbungskontexte allgemein, Biografien von Objekten, Sammlungs- bzw. Institutionengeschichte sowie Kunstmarktforschung zu ihren Schwerpunkten. Die Methoden sind ebenso komplex wie interdisziplinär und erfordern ein extrem hohes Maß an Expertise.
Doch wie passt die Äußerung der Kulturstaatsministerin Monika Grütters, dass Provenienzforschung und insbesondere „die rückhaltlose Aufklärung des NS-Kunstraubs, eine immerwährende Aufgabe“ (3) ist zu der Tatsache, dass die Mehrheit der in diesem Bereich Forschenden noch immer in prekären Befristungsverhältnissen arbeitet, teils bei unangemessener tariflicher Einstufung? (4) Wie kann der außenpolitische Stellenwert der Provenienzforschung in Einklang gebracht werden mit dem offensichtlichen Verschleiß von Kompetenzen und Ressourcen zu Lasten derer, die mit dieser moralisch wie ethisch überaus verantwortungsvollen Aufgabe betraut sind?
Trotz einiger lobenswerter Beispiele besteht in Deutschland noch immer eine extrem tiefe Kluft zwischen politischen Absichtsbekundungen und realer Museumspraxis. (5) So prägt momentan die aktuelle Kulturpolitik mit ihren Förderstrukturen im Wesentlichen die Art und Weise in welcher die Provenienzforschung innerhalb der Museumslandschaft verankert wird und nicht – wie es wünschenswert wäre – andersrum. Obwohl eine spezifisch deutsche Verantwortung grundsätzlich anerkannt wird, ist noch viel zu selten der Wille erkennbar, diese Forschungsdisziplin systematisch und nachhaltig an Museen und anderen Einrichtungen zu implementieren. In Zeiten, in denen nationale und internationale Verbände wie der DMB und die ICOM über eine Neudefinition von Museen diskutieren, muss endlich auch ein klares Bekenntnis zur Provenienzforschung festgeschrieben werden!
Wir können uns nicht weiter damit zufriedengeben, dass politischer oder medialer Druck darüber entscheidet, ob kolonialzeitliche Erwerbungskontexte, der sog. NS-Kunstraub oder Kulturgutentzug in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR im Vordergrund stehen oder lieber gar nicht untersucht wird. Die verschiedenen Entzugsumstände dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Provenienzforschung muss zu allen erwähnten Kontexten und auch darüber hinaus immer eine Selbstverständlichkeit sein und zur Biographie eines jeden Objekts in einer jeden kulturgutbewahrenden Einrichtung gehören – das sind wir zunächst den Opfern von Verfolgung, Enteignung und Entrechtung sowie ihren Nachfahren schuldig. Das sind wir aber auch den Gesellschaften von heute und für die Zukunft schuldig. Provenienzforschung hat das Potential, nicht nur Objekte, sondern Vergangenheiten „zurückzugeben“, Familien, Kulturen und Gesellschaften zu verbinden – auch über Länder- oder Kontinentalgrenzen hinweg.
Ein struktureller Wandel braucht Zeit, Personal und Geld und ist ohne die Hilfe von Trägern und Förderern in Bund, Ländern und Kommunen nicht denkbar. Aber diese Hilfe muss eingefordert werden und dies kann nur dann gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen, Weichen stellen, (infra)strukturelle Voraussetzungen schaffen und Zugänge gewähren. Museen sollten nicht nur alle paar Jahre im Rahmen von Tagungen aufgefordert sein, einzelne Objektgeschichten in fünf Minuten zu erzählen – sie sollten täglich aufgefordert sein, proaktiv ihre Verantwortung zu bekunden: „Provenienzforschung geht uns alle an!“
(1) Vgl. Institut für Museumsforschung, Heft 71: „Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2016“, Berlin 2017. Abgerufen am 06.06.2020: https://www.smb.museum/fileadmin/website/Institute/Institut_fuer_Museumsforschung/Publikationen/Materialien/mat71.pdf
(2) „Leitfaden Provenienzforschung zur Identifizierung von Kulturgut, das während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgungsbedingt entzogen wurde“, hrsg. v. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste gemeinsam mit Arbeitskreis Provenienzforschung e.V., Arbeitskreis Provenienzforschung und Restitution – Bibliotheken, Deutscher Bibliotheksverband e.V., Deutscher Museumsbund e.V., ICOM Deutschland e.V., Berlin 2019.
(3) siehe dpa-Meldung „NS-Raubkunst aus Münchner Kunsthandlung kehrt zurück“, 05.06.2020 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/kultur-berlin-ns-raubkunst-aus-muenchner-kunsthandlung-kehrt-zurueck-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200605-99-323761, abgerufen am 06.06.2020)
(4) siehe z.B. Ausschreibung der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, die für die Provenienzrecherche und Erforschung der Sammlungsgenese die Bezahlung mit TVöD-VKA-Ost, EG11 angibt. (https://arthist.net/archive/23080, abgerufen am 06.06.2020)
(5) Kurz vor Redaktionsschluss erreichte den Vorstand die Nachricht, dass aufgrund der Folgen von COVID-19 eine Planstelle für Provenienzforschung am Museum der bildenden Künste in Leipzig doch nicht besetzt wird. Das aktuellste Beispiel der traurigen Realität. (https://www.lvz.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-Regional/Wie-sind-die-Kunstwerke-in-die-Museen-gekommen-Leipzig-reduziert-Forschung-und-begruendet-das-mit-Corona, abgerufen am 16.06.2020).
Vorstand des Arbeitskreises Provenienzforschung e.V.
Meike Hopp, Sven Haase, Christian Klösch, Carolin Lange, Johanna Poltermann