Gastbeitrag von
Michael Happe, Museumsleiter Hohenloher Freilandmuseum Schwäbisch Hall und Sprecher der Fachgruppe Freilichtmuseen
Als die Museumsgattung „Freilichtmuseum“ vor rund 130 Jahren mit den ersten Gründungen in Skandinavien entstand, befanden sich weite Teile Europas in einer tiefgreifenden Umbruchphase. Aus Agrargesellschaften wurden Industriestaaten. Erklärtes Ziel der Gründer der Freilichtmuseen war es damals, Zeugnisse der „alten Welt“ als Anschauungsobjekte und Belegexemplare des Untergehenden zu bewahren. Gebäude wurden transloziert und ausgestattet, um die Lebensverhältnisse der Menschen früherer, im Sinne vorindustrieller Zeiten zu veranschaulichen. Trotz einiger Kurskorrekturen und konzeptioneller Nachjustierungen besteht diese Hauptaufgabe bis heute, wieder finden derzeit tiefgreifende Veränderungen statt, diesmal im globalen Maßstab, aus Industrie- werden Dienstleistungsgesellschaften. Lange bevor das Schlagwort der „Nachhaltigkeit“ überhaupt kreiert und verbreitet worden ist, waren die damit verbundenen alltagshistorischen Themen Teile der Vermittlung in den Freilichtmuseen. Denn die größten Exponate dieser Museen, die historischen Gebäude, sind beinahe ausschließlich mit Naturmaterialien erbaut worden.
Schon in Zeiten, in denen Fragestellungen wie CO2-Bilanz, Emissionen von Giftstoffen oder ökologischer Fußabdruck noch keine Rolle im öffentlichen Diskurs spielten, war es selbstverständlich und zu großen Teilen alternativlos, so zu bauen, dass diese Kriterien Beachtung fanden. Wurde ein Gebäude abgebrochen, fielen kein Sondermüll und keine kontaminierten Materialien an, vieles, genau genommen beinahe alles, konnte stattdessen wiederverwendet werden und lebte in einem neuen Gebäude oder mit anderen Zusammenhängen weiter. Lehm aus Gefachfüllungen wurde beim Abriss von hölzernen Wandbestandteilen getrennt, eingeweicht und wiederverwendet. Beschädigte Dachziegeln wurden im Wegebau verwendet, nicht mehr passende Fenster und Türen fanden andere Verwendungen, alte Kleiderschränke wurden vielfach nach dem Prinzip des „gesunkenen Kulturguts“ zum Hasenstall.
Der Anbau von Feldfrüchten oder auch das Konzept der Ganztiernutzung (nose to tail) war im ländlichen Bereich üblich und wurde zu einem sehr großen Teil selbst, zumindest aber saisonal und lokal oder regional erzeugt, das Anlegen von Wintervorräten war lebensnotwendig. Verwertet wurde alles, woraus Pflanzen und Tiere bestehen, Abfälle wurden kompostiert und fanden als Dünger im Garten Verwendung. Einweg-Verpackungsmaterialien spielten keine Rolle, Kunststoffe waren noch nicht erfunden, beinahe alles was zum täglichen Leben gebraucht wurde und vorhanden war, konnte restlos verbraucht oder nach der Verwendung einem anderen Zweck zugeführt werden. Die Müllabfuhr ist im ländlichen Bereich eine in den 1950er Jahren einsetzende Neuerung.
Diese Zusammenhänge sind seit Jahrzehnten Teil der Vermittlung in den Freilichtmuseen, in museumspädagogischen Projekten werden Faktenwissen aber auch historische Kulturtechniken durch eigenes Tun vermittelt. Schülerinnen und Schülern aus städtischem Lebensumfeld, die Backwaren nur als fertige Produkte beim Bäcker oder im Supermarkt kennen, ist der kausale Zusammenhang zwischen dem Pausenbrot und dem Getreidefeld häufig nicht bewusst, im Freilichtmuseum können sie Getreide von Hand ausdreschen, erleben wie es in einer mit Wind- oder Wasserkraft betriebenen Mühle gemahlen wird und aus dem Mehl etwas kochen oder backen, das anschließend gemeinsam verzehrt wird. Solche und ähnliche Angebote, etwa aus den Bereichen Handwerk, Gartenbau, Textilherstellung, Obstverarbeitung und vieles andere mehr bestehen seit Jahrzehnten, sie gewannen in den letzten Jahren aber immer mehr an Aktualität.
Für die allermeisten Freilichtmuseen sind Handwerk und Landwirtschaft wichtige Themen, die einen großen Stellenwert in der Vermittlung einnehmen. Schmiede, Zimmerleute, Tischler, Töpfer, Korbmacher und viele weitere Handwerker zeigen, wie in der vorindustriellen Zeit Dinge des täglichen Bedarfs als Unikate von Hand angefertigt worden sind. Nutztiere historischer Rassen werden gehalten, Nutzpflanzen alter, häufig ertragsärmerer aber widerstandfähigerer Sorten sind auf Feldern und in Gärten zu sehen. Was in erster Linie unternommen wird, um das Bild vom ländlichen Raum früherer Zeiten zu vervollständigen, erfüllt einen weiteren Zweck, der ebenfalls zunehmend an Bedeutung gewinnt: Die vielfach großen Geländeflächen der Freilichtmuseen werden traditionell, d.h. nach heutiger Einordnung „biologisch“ bewirtschaftet ohne den Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln, wodurch diese Flächen zu Rückzugsgebieten für viele Tier- und Pflanzenarten geworden sind, für die infolge der industrialisierten Landwirtschaft vielerorts kein Lebensraum mehr besteht. Die Freilichtmuseen bilden häufig Gen-Reserven und kooperieren mit Organisationen wie der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen. Themen wie Artenvielfalt und Insektenschutz bereichern die Spektren der museumspädagogischen Vermittlungsformate, einige Freilichtmuseen sind zugleich Umweltbildungsstation oder bieten Seminare für Hausbauer:innen, etwa zum Bauen mit Lehm oder zur Wandgestaltung mit Naturfarben auf Kalk- und Kaseinbasis mit mineralischen Pigmenten an. Kooperationen und/oder institutionelle Vernetzungen mit Natur- und Umweltschutzverbänden oder –initiativen gehören für viele Freilichtmuseen zum Alltagsgeschäft.
In den letzten Jahren haben viele Freilichtmuseen darüber hinaus auch ihre Existenz in der Gegenwart auf den Prüfstand gestellt und ihre Arbeitsabläufe betrachtet. Denn die historischen, emissionsfrei und mit Naturmaterialien errichteten Gebäude haben natürlich als Museumsgebäude eine elektrische Beleuchtung und sind zum Teil an Temperierungen angeschlossen – einige wurden auch für den heutigen Standard als Ausstellungsräume angepasst. Es gibt sanitäre Anlagen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für die Besucherinnen und Besucher, Verwaltungsräume und Werkstätten bzw. Betriebshöfe werden geheizt, Büromaterialien verbraucht, bei größeren Veranstaltungen werden Geschirre und Bestecke verwendet, Müll fällt bei den Besucherinnen und Besucher an, vom Eispapier bis zum Getränkebehältnis oder an Veranstaltungstagen dem Imbissteller. Hier wurden, wie wohl in allen Museen, Pläne erarbeitet um Energie einzusparen, etwa durch das Umstellen auf LED-Beleuchtung. Pellets – oder Hackschnitzelheizungsanlagen kommen vielfach zu Einsatz, Müll wird soweit möglich getrennt oder vermieden. Bei Projekten zum Bau von Funktionsgebäuden wie Eingangs- Ausstellungs- oder Depotgebäuden ist CO2-Neutraltät, die Verwendung von ökologischen Baustoffen vielfach Planungsvorgabe oder –ziel, genauso wie möglichst „keep simple and smart“ bei der technischen Ausstattung oder der Nutzung von Erdwärme oder Energie aus Photovoltaik-Anlagen.
Ein wichtiger Bereich ist in diesem Zusammenhang auch die Erreichbarkeit der Freilichtmuseen. In unserer Fachgruppe sind 40 Museen organisiert, zusammen nutzen deren Angebote rund 5 Millionen Menschen in einem Jahr. Der überwiegende Teil davon sind Einzelbesucher, Paare und Familien, die die Angebote der Freilichtmuseen nutzen und Inhalte wahrnehmen. An Wochenenden mit sommerlicher Witterung und vielleicht noch einem zusätzlichen Themenangebot wie einem Tag des traditionellen Handwerks oder der Getreideernte mit Sense und Sichel füllen sich bisweilen die Parkplätze der Museen wie sonst nur bei Volksfesten oder bei Fußball-Bundesligaspielen. Viele unserer Mitgliedsmuseen haben daher Angebote erdacht, die zum Umstieg auf den ÖPNV oder das Fahrrad motivieren sollen, etwa durch Rabatte beim Eintritt bei Vorlage des ÖPNV-Tickets oder die Bereitstellung von kostenlosen Ladestationen für E-Bikes.
Alle diese und weitere Maßnahmen werden weiter ausgebaut, es gibt einige „Musterschüler“ oder Vorreitermuseen, aber auch andere, die mit kleinen Schritten noch am Anfang dieser Veränderungsphase stehen. Für die Freilichtmuseen besteht hier eine Aufgabenstellung, die einerseits Chancen birgt, andererseits aber auch Gefahren. Letztere besteht darin, dass im Falle einer nicht erfolgten Ausrichtung des Tätigkeitsspektrums und der Arbeitsabläufe auf Nachhaltigkeit, die klassischen Themen der Vermittlung konterkariert würden und der Anspruch der Freilichtmuseen als Bildungseinrichtungen beschädigt würde. Die Chance besteht dagegen darin, dass in den Freilichtmuseen zum einen aufgezeigt werden kann, dass Nachhaltigkeit, Klima- und Artenschutz in früheren Zeiten selbstverständliche Determinanten des täglichen Lebens gewesen sind. Zum anderen kann für die Besucherinnen und Besucher davon ausgehend der Bogen in die Gegenwart geschlagen werden und, etwa in Form besonderer Vermittlungsformate oder auch einfach anhand gelebter Beispiele, für Nachhaltigkeit und benachbarte Themen sensibilisiert werden. Insekten- oder vogelkundliche Rundgänge zu früher Stunde, eine Wildkräuterführung oder eine bauhistorische Entdeckungsreise, können innerhalb der Museumsanlagen an authentischen Orten Zusammenhänge mit hohem Anschauungswert aufzeigen. Dieses Potenzial so weit möglich auszuschöpfen wird eine der Leitlinien der Arbeit der Freilichtmuseen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein.